Einfach nur
leben
(Die folgende Geschichte habe ich beim Sortieren in meinem Geschichten-Ordner entdeckt, 2009 habe ich sie geschrieben. Eine kleine Satire, die ich
Euch nicht vorenthalten will.)
„Kalorien
sollten Sie nicht zu sich nehmen, denn sie machen dick“, schmökerte ich im
Wartezimmer. In einer anderen Zeitschrift schrie es mir entgegen: „Die neue
italienische Diät heißt ‚Tortissimo fortissimo’- Fort mit den Pfunden durch
Torten.“
Dann wurde ich
aufgerufen, mein Arzt gab mir nach der Untersuchung den Tipp, ein wenig
abzunehmen. Diesen Rat, so beschloss ich, würde ich sehr ernst nehmen.
Blöde Leute
das, die immer von mir erwarteten, dass ich meine Ü40 und drei Kinder in
würdevollen Pfunden präsentierte. Mein Mann Leo fand meine Polster so schön
griffig, aber er würde mich auch ohne lieben.
Womit also
beginnen? Am besten erst morgen früh, so hatte ich abends noch Gelegenheit,
mich gegen mögliche Hungerattacken zu wappnen. Und zwar mit einer ordentlichen
Brotzeit, Spiegeleiern und Speck. Nach so viel Herzhaftem hatte ich mir zum
Ausgleich drei Schokoriegel verdient. Danach war die Packung alle, ordentlich
aufgeräumt muss sein.
Frontalangriff
beim Frühstück mit einem halben Becher Magerjogurt und ungesüßtem Kräutertee.
Gegen Mittag knurrte meine Magen mich derart aggressiv an, dass ich ihn rasch
mit Gemüsesuppe und einer Scheibe Knäckebrot beruhigte. Am Nachmittag wurde ich
wütend auf meinen Arzt, weil das Abnehmen eine völlig unzumutbare Quälerei war.
Für meine bisherige Disziplin belohnte ich mich mit zwei Stück Torte. So
ähnlich zumindest hatte der italienische Diättipp gelautet. Und der andere Rat?
Auf keinen Fall Kalorien. Im Klartext: Nicht mal eine Möhre, nur Wasser.
Gehorsam trank ich abends ein großes Glas davon. Dabei dachte ich wehmütig an
die Zeiten, als mir mühelos eine Hechtrolle gelang. Dann konnte ich nicht mehr
von den Sahnerollen lassen, nun trage ich eine Speckrolle vor mir her.
Auch ein zweites
Glas Wasser sättigte mich nicht. Ich brutzelte mir fünf Frühlingsrollen und
grollte am nächsten Tag beim Gang auf die Waage.
Also schrieb
ich mir akribisch auf, was ich heute zu essen gedachte.
Den Zettel
legte ich gut sichtbar auf den Tisch. Später war er spurlos verschwunden, aber
egal, die Würstchen mussten sowieso endlich mal gemacht werden und das Stück
Apfelstrudel sollte auch nicht verderben.
Leo berichtete
abends stolz, er habe alles bekommen, was auf dem Einkaufszettel stand, den ich
auf den Tisch gelegt hatte.
Am nächsten Tag
verzeichnete die verfluchte Waage eine neue Steigerung. Nun war mentales
Training mit Maulsperre angesagt:
Ich stellte mir
meinen Kopf in einer Schraubzwinge vor. Ha, ich würde einfach gar nichts essen,
jawohl!
Bevor ich diesen
Fernsehfilm sah, muss die Tüte mit den Chips noch voll gewesen sein, ebenso die
Dose mit den Erdnüssen. Und das Pfund Vanilleeis habe ich dabei wohl unbewusst
verdrückt.
Durch etwas
Gymnastik sorgte ich für ausgleichende Gerechtigkeit, dazu hörte ich Musik im
Radio. Was für ein Rap war das denn?
„…hab ‚ne Macke
mit Fressattacken, krieg davon ‚nen Stiernacken und Hamsterbacken mit dem
Effekt: Meine Figur ist verreckt, hab sie unter ‚ner Kutte versteckt…“ Musste
ich mir das geben?
Der Vorschlag
mit dem nostalgischen Filmabend kam von Leo.
Nervös
registrierte ich, dass unsere Knabbervorräte alle waren, doch dann wurde ich
ganz Auge. Leo hatte eine Filmkassette aus meinen Kindertagen erwischt,
Dänemarkurlaub. Wie ich selbstvergessen am Strand saß, eine Sandburg baute und
einen Tunnel grub. Wie ich jauchzend durch die Wellen rannte und Stöckchen
werfen mit unserem Hund spielte.
Dachte ich
damals an Kalorien? An Kilos? An Kochrezepte? Ich lebte einfach, nichts weiter.
Vielleicht war meine Fähigkeit dazu gar nicht so verschüttet. Leben – ich würde
damit beginnen, und zwar sofort.